Emotionale Agiliät
Ran an die Gefühle. Weshalb wir Gefühle als Kompetenz anerkennen sollten.Lesezeit: 10min Ι von Tanja Ι 21. Nov 2020 Ι Emotional Intelligence
„M
eine Gefühle gehören nicht in den Unternehmenskontext. Das ist ineffizient.“ – ein eher beiläufiger Glaubenssatz einer Kundin. Interessant, ich will mehr wissen. Arbeit also ein emotionsfreier Raum?
Die Kundin empfindet Professionalität und Emotionalität als gegensätzlich. Und damit scheint sie nicht allein zu sein. Emotionalität ist tendenziell negativ konnotiert und wird von vielen mit unkontrollierten Gefühlsausbrüchen in Verbindung gebracht. Über Gefühle reden? Zu esoterisch und unproduktiv.
Das Fundament eines jeden Unternehmens besteht aus Menschen. Und wir alle haben Emotionen, tragen sie jeden Tag mit uns. Gefühle gehören zu unserer ureigenen menschlichen Grundausstattung. Sie sind Informationen und Datenquellen. Als ein Geschenk der Evolution geben sie uns Anhaltspunkte dafür, welche Bedürfnisse wir haben, was uns wichtig und für uns stimmig ist. Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damasio bringt es auf den Punkt: „Wir sind nicht Denkmaschinen, die fühlen, sondern Fühlmaschinen, die auch denken“.
Ich glaube, gelebte emotionale Kompetenz ist die Superpower für unsere individuelle mentale Gesundheit, unser soziales Zusammenleben und unternehmerisches Wirken – und heute wichtiger als je zuvor. Hier mein Plädoyer für eine vielfältige und “gefühlsechte” (Arbeits-)Welt.
Dr. Susan David, Psychologin an der Harvard Medical School, definiert Emotionale Agilität als „die Fähigkeit, die eigenen Gefühle mit Neugier und Mut zu betrachten, um werteorientiert zu handeln. Es ist der Prozess, der uns in die Lage versetzt, mit Selbstakzeptanz, Klarheit und Aufgeschlossenheit durch die Höhen und Tiefen des Lebens zu navigieren.“
Der menschliche Geist ist eine Maschine, die unablässig versucht, Sinn zu erzeugen.
Wir alle sind jeden Tag damit beschäftigt, unsere sensorischen Eindrücke in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Basis ist ein Repertoire emotionsgeladener Erinnerungen und Bilder, die wieder hochkommen, wenn sie durch äußere Einflüsse ausgelöst werden. Die Forschung¹ zeigt, dass Emotionen unserem Denken Sinn, Priorität und Fokus geben. Wenn wir etwa schon genervt sind, bewerten wir das Verhalten anderer Leute entsprechend. Wir halten dann zum Beispiel eine Reaktion für ungerecht, obwohl wir sie an anderen Tagen hätten nachvollziehen können. Emotionen sagen uns, was wir mit dem Wissen tun sollen, das unsere Sinne ermitteln. Sie motivieren uns zum Handeln. Wenn sich dieser Mechanismus verselbstständigt, sind wir im Autopilot.
Emotionale Beweglichkeit schafft eine Distanz zwischen dem Gefühl und der Reaktion. Die damit verbundene Selbstwahrnehmung und Emotionsregulation ermöglichen es uns, nicht einfach unseren Impulsen zu folgen, sondern abzuschätzen, ob gerade der passende Moment für eine bestimmte Verhaltensweise ist. Das hilft insbesondere in konfliktären Situationen oder in dynamischen, sich häufig wandelnden Umgebungen. Denn wenn wir gestresst sind, reagiert unser Autopilot noch stärker als er es ohnehin schon tut.
Emotionale Agilität beschreibt somit emotionale Kompetenzen, die bei der Mehrzahl der Mitarbeiter*innen und Führungskräfte von Unternehmen ausgeprägt sein müssen, um überhaupt Themen wie Innovation, New Work und Agilität anzustoßen.
Vitamin „E“: Fünf Gründe, warum Emotionen zum unternehmerischen Erfolg beitragen
Mehr als 100.000 Menschen in mehr als 50 Ländern haben das 2007 von Google gestartete Programm zu emotionaler Intelligenz Search Inside Yourself durchlaufen. Die Soziologin Eva Illouz diagnostiziert 2006 einen emotionalen Kapitalismus und erklärt den Umgang mit Emotionen zur Ressource sowie emotionale Intelligenz zu einem neuen Kapital. 2018 ruft das Frankfurter Zukunftsinstitut in einer Trendstudie den „Siegeszug der Emotionen“ aus. Die Zukunft liegt in unseren Emotionen. Wie helfen uns Emotionen in der VUCA*-Welt zu gedeihen?
♦ Digitalisierung, Automatisierung und Robotics: Alle Prozesse, die klaren Regeln folgen, die planbar und programmierbar sind, werden über kurz oder lang an Maschinen übergehen. Das schafft Raum für die Zwischenbereiche, für das Unwägbare, das Überraschende, das Bunte – sprich das, was Menschsein ausmacht. Was uns Menschen von den Maschinen unterscheidet? Wir können spüren, Schwingungen wahrnehmen, diese aufgreifen, nachdenken, uns aneinander reiben, Widersprüche aushalten und darauf aufbauend zu den besten Lösungen kommen. Das alles ist zutiefst menschlich und es ist das, was Unternehmen so dringend brauchen, um in einer komplizierten und komplexen Welt zu bestehen. Eine Besinnung auf den Kern des New Work Gedanken: People matter!
♦ Emotionen lenken nicht nur unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, sondern haben auch einen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Angenehme Emotionen wie Freude, Lebendigkeit oder Vertrauen vermitteln uns nicht nur ein Wohlgefühl. Sie öffnen uns auch für Neues und veranlassen uns, Entscheidungen tendenziell auf Basis von Heuristik, unserem Bauchgefühl, zu treffen. Unangenehme Emotionen wie Wut, Angst oder Abscheu empfinden wir aus überlebensstrategischen Gründen meist intensiver. Sie sind jedoch ebenso konstruktiv und regen zum Überdenken und Vertiefen an. Sie schärfen unser Problembewusstsein und lassen uns Details besser erkennen.
♦ Emotionen sind ansteckend. Dies bestätigt die Entdeckung der so genannten Spiegelneuronen im menschlichen Hirn. Die Spiegelneuronen ermöglichen es, zu imitieren, zu lernen, uns in andere hineinzuversetzen und miteinander zu kommunizieren. Sie sind auch die kognitive Grundlage für Mitgefühl und damit für das soziale Miteinander. In Zeiten von Disruption und künstlicher Intelligenz sind persönliche und berufliche Vernetzung Gold wert. Aber ohne echte Verbundenheit ist die beste Vernetzung wertlos. Deswegen sind emotionale Beziehungsfähigkeiten, wie Empathie die neue Währung. Brené Brown, Professorin an der University of Texas, beschreibt in diesem illustrierten Video was Empathie in der Praxis heißt. Ihre Kernaussage: „Empathy is connecting to the emotions that underpin an experience.”
♦Emotionen sind Treiber von Kreativität und Innovation. Zahlreiche Studien² belegen, dass das Erleben von Gefühlsvielfalt und die Bereitschaft, tief in Gefühle einzutauchen im Zusammenhang stehen mit Kreativität, unkonventionellen Ideen sowie der Offenheit für Inspiration. Innovation und damit einhergehend Veränderungen lösen häufig Widerstand aus. Mitarbeiter*innen werden aufgefordert, Vertrautes hinter sich zu lassen und sich auf das Neue, meist Ungewisse, einzulassen. Damit verbundene Ängste und Unsicherheiten können wir mit Empathie und Transparenz begegnen und lenken.
♦ Die eigentliche Triebfeder unseres Handelns und der Produktivität sind unsere Gefühle, nicht unser Kopf. In der Werbung hat man das erkannt und nutzt Storytelling, Musik und Bilder, um unsere Emotionen anzusprechen. Fakten regen zum Denken an, Emotionen zum Handeln. Wissenschaftliche Belege³ liefert auch die Neurobiologie: Menschen brauchen eine Umgebung des Vertrauens, der Zugehörigkeit und der Nähe, um ihr volles Engagement abzurufen und um mitzugestalten. Empathie führt dazu, dass Menschen sich gesehen, respektiert, gewürdigt fühlen und folglich auch emotional bereit sind, sich einzusetzen und zu entwickeln.
♦ Unsere Emotionen sind verbunden mit körperlichen Reaktionen, wie der Freisetzung von Hormonen, die wiederum unsere physische Gesundheit beeinflussen. Dankbarkeitsgefühle erhöhen den Sauerstoffgehalt in unserem Gewebe, beschleunigen Heilungsprozesse und stärken unser Immunsystem. Lachen erhöht den Fluss von Beta-Endorphinen, die unsere Stimmung verbessern und Wachstumshormone, die unsere Zellen reparieren, stimulieren. Weinen ist beruhigend, weil es Stresshormone aus unserem Körper transportiert.
“Leaders must either invest a reasonable amount of time attending to fears and feelings, or squander an unreasonable amount of time trying to manage ineffective and unproductive behavior.”
Mit diesen Worten von Brené Brown frage ich Sie: Wie möchten Sie Ihre Zeit nutzen?
Das Thema Umgang mit Gefühlskräften interessiert Sie? Lesen Sie weiter im zweiten Teil zu emotionaler Agilität, wie Sie Ihre Emotionen besser verstehen und nutzen lernen.
* Das Akronym VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity, zu Deutsch Flüchtigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit. Es beschreibt die Herausforderungen der heutigen Zeit: Wir leben in einer Welt, die sich ständig verändert, instabiler wird und Veränderungen unvorhersehbarer werden. Berechenbarkeit von Ereignissen nehmen rapide ab, Prognosen und Erfahrungen aus der Vergangenheit als Grundlage für die Gestaltung von Zukunft verlieren ihre Gültigkeit und Relevanz. Unsere Welt ist komplexer denn je. Entscheidungen werden zu einem nicht mehr steuerbaren Geflecht aus Reaktion und Gegenreaktion. Selten ist etwas ganz eindeutig oder ganz exakt bestimmbar. Die Anforderungen an Organisationen und Führung von heute sind häufig widersprüchlich.
Quellen & Studien:
1. Gordon Bower: Mood and memory. American Psychologist 1981, Vol. 36 (2); https://www.researchgate.net/publication/229068090_Mood_and_memory
2. Scott B. Kaufmann: The Emotions That Make Us More Creative. Harvard Business Review, 2015; https://hbr.org/2015/08/the-emotions-that-make-us-more-creative
3. Hülsheger, U. R. & Schewe, A. F.: On the costs and benefits of emotional labor: A meta-analysis of three decades of research. Journal of Occupational Health Psychology 2011, Vol. 16(3); https://doi.org/10.1037/a0022876
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